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TO BE OR NOT TO BE
Devid Kesler

Während meiner kurzen Reise nach Madrid lernte ich Emigranten aus Südamerika kennen, lustige, freundliche Menschen, und wir verbrachten viele Abende in einem Café. Aber die Zeit verging zu schnell, ich musste schon heimkehren. Mir fiel es schwer, mich von meinen neuen Freunden zu verabschieden. Ich bekam schlechte Laune und wurde nervös. Als Daniel, ein kubanischer Ex-Journalist und nun Emigrant das bemerkt hatte, sagte er mir: "Sei nicht traurig. Das Leben ist schön und bringt uns immer etwas Unerwartetes. Ich erzähle dir eine Geschichte. Obwohl sie auf den ersten Blick recht merkwürdig und komisch erscheinen mag, ist es die reine Wahrheit. Vielleicht wirst du dann wieder fröhlich."
Er begann: "Ich kannte eine Angela aus Havanna. Sie war auch Journalistin und arbeitete bei einer Zeitung. Die Zeitung war natürlich kommunistisch. Angela aber war keine glühende Kommunistin, und mit ihr konnte man sich gut unterhalten. Ihr Mann war ein berühmter Parteifunktionär und immer müde. Er sagte, das sei wegen der Arbeit. Angela beklagte sich bei ihren Freunden, dass ihr Mann kalt und gleichgültig zu ihr wäre.
Einmal bekam Angela einen Telefonanruf von ihrer Freundin. Die Freundin sagte, dass sie ganz genau wisse, dass Angelas Mann schwul sei, einen Freund habe, dem er bei dessen Arbbeitskarriere helfe, und dass sie sich zwei Mal pro Woche treffen würden. Angela war wütend. Nicht, weil ihr Mann schwul sei. Kubaner sind tolerant gegenüber Schwulen und Prostituierten. Auch wenn die Zeitungen schrieben, in Kuba gäbe es keine Schwulen und Prostituierte, konnten die Leser nur darüber lächeln. Nein, Angela war nur gekränkt, weil ihr Mann nicht mit ihr, sondern mit einem anderen schlief.
Um ehrlich zu sein, sie ihrerseits hatte auch einen Freund, Enrico, den Chefredakteur einer anderen kommunistischen Zeitung. Beide verstanden sich gut. Enrico war zwar nicht mehr jung, aber sehr triebhaft, das heisst: immer geil, und er füllte die Lücken, die der Ehemann offen ließ. Er war klug und half Angela bei verschiedenen Schwierigkeiten.
Nach dem Telefongespräch kam Angela also weinend zu Enrico und erzählte ihm alles.
· Ich kann nicht mehr so leben. Einige glotzen mich ironisch an, andere mitfühlend. Ich wollte mich schon lange scheiden lassen, aber das ist unmöglich, wir werden beide als Kommunisten bald gekündigt. Jetzt ist mir alles egal. Ich lasse mich scheiden, fahre in eine kleine Stadt und bekomme wieder meine Ruhe.
· Sei nicht so nervös, - riet er. -Wie immer bist du voreilig. Gut, du kannst dich von deinem Mann scheiden lassen und in eine ferne Stadt fliehen. Aber was bringt es dir. Nichts, nichts und gar nichts. Hör mal zu, ich habe dir immer gute Ratschläge gegeben und auch jetzt etwas vorzuschlagen. Schon lange habe ich eine Idee im Kopf, einen Plan, um es genauer zu sagen, wie wir beide unser Leben verändern könnten. Ohne dich hat es keinen Zweck, nur mit dir will und kann ich es schaffen. Erstens erzähle ich dir eine ziemlich lange Geschichte, sei geduldig und unterbreche mich nicht. Meinen Plan wollte ich dir schon lange mitteilen, aber ich wusste nicht, wie du darauf reagieren würdest. Doch versprich mir fest, niemandem etwas zu erzählen, wenn du meinen Plan nicht akzeptierst.
Sie versprach es ihm.
· Mein Vater hat mir kurz vor seinem Tod diese Geschichte erzählt und gebeten, niemanden etwas darüber zu sagen. Du weißt schon, er war Kämpfer bei Castros Truppen, die Diktatur Batistas gestürzt und die kubanische Revolution gemacht haben. Die kubanische Regierung war trotzdem nicht ganz zufrieden, weil ein Teil der kubanischen Insel immer noch nicht frei war; denn da war der amerikanische Militärstützpunkt Guantanamo. Die Kubaner haben alles versucht, um Guantanamo von den Amerikanern zu befreien, aber vergeblich. Die amerikanische Armee war viel stärker als die kubanische. Mein Vater hat mir erzählt, dass zwischen Havanna und Guantanamo ein Geheimtunnel besteht. Davon wussten nur wenige Parteikameraden. Die Kubaner wollten den Tunnel benutzen, um die Amerikaner aus Guantanamo hinaus zu treiben. Deshalb schickten sie eine terroristische Truppe in den Tunnel. Sie wussten nicht, dass im Tunnel riesige Mengen Ratten hausten, die aggressiv und groß waren. Die Ratten haben die Soldaten, die in den Tunnel geschickt wurden, zerrissen und aufgefressen. Das gleiche geschah mit der zweiten Truppe, und schliesslich gaben die Kubaner diese Idee mit dem Tunnel auf. Mit der Zeit hatte ich diese Geschichte schon vergessen, da sie mir zu phantastisch erschien. Aber vor einigen Monaten habe ich mich daran erinnert, weil ich zufällig einen Chinesen in einem Laden getroffen habe, in dem verschiedene Waren und Mittel zur Steigerung der Potenz verkauft werden. Ehrlich, ich habe es satt, Pillen zu schlucken.
· O, dabei war ich mir so sicher gewesen, dass du von Natur aus so geil und aktiv seist,' sagte Angela etwas enttäuscht.
· Vergiß nicht, dass ich nicht mehr jung bin. Und dich so oft und so sehr zu befriedigen, sollte nach meinen Vorstellungen auch jungen Männer schwer fallen, - erklärte Enrico.
· Ich liebe dich doch nicht nur deshalb, - sagte sie beleidigt.
· Schon gut, ich weiß es ja, ist aber jetzt nicht so wichtig. Ich möchte mit dir momentan etwas ganz anderes besprechen. Der Chinese hat mir ein Extrakt aus Genitalien von Wildkatern angeboten. In diesem Moment wurde ich wie von einem Blitz getroffen. Ich habe mich an Vaters Geschichte erinnert und den Verkäufer gefragt, ob das Extrakt auch Ratten vertreiben könne. Das hat er bejaht. Ich habe zwei Flaschen gekauft. Eine ist schon fast leer, aber ich habe noch eine ganz volle.
· Ich verstehe dich nicht. Möchtest du nicht mehr in Kuba leben? - fragte sie erstaunt und ängstlich.
· Nein, schon lange nicht mehr. Ich kann nicht von meinem elenden Lohn leben. Ich möchte mit dir ein schönes Leben genießen, nach Paris, New York, London reisen, in den besten Restaurants essen. Dafür braucht man viel Geld. Ich will die Amerikaner um Asyl bitten. Als Chefredakteur kenne ich einige Staatsgeheimnisse, die ich den Amerikanern verkaufen könnte. Würdest du erst mit mir nach Guantanamo gehen und dann von dort in die Vereinigten Staaten von Amerika fliehen?
· Aber Kuba ist meine Heimat, mir gefällt es, hier zu leben. Doch bei den jetzigen Aussichten kann ich auch nicht mehr hier leben. Mit dir bin ich bereit, überall hin zu gehen.
· Gut. Eine andere Antwort habe ich von dir nicht erwartet,' sagte er zufrieden. ,Und noch etwas: hast du gute Englischkenntnisse?
Sie bejahte.
In einer dunklen Nacht, vorsichtig und sich vielmals umsehend, kamen Enrico und Angela zum Tunnel. Sie bespritzen sich mit dem Extrakt und krochen in den Tunnel hinein. Der war sehr eng und niedrig, der Boden mit zerschlagenen Steinen bedeckt. Von der Decke herab hingen Spinnengewebe. Als richtiger Gentelman zerriss Enrico die Spinnengewebe, um für Angela den Weg freizumachen. Es war sehr schwierig, den Tunnel entlang zu kriechen. Plötzlich wurden die Wände des Tunnels lebendig. Die Ratten spürten die Anwesenheit der lebendigen Wesen und wollten sich schon auf die Flüchtlinge stürzen. Aber als sie den Geruch der Genitalien des Wildkaters wahrnahmen, liefen sie in Panik weg. Enrico und Angela krochen langsam und mühsam. Aber die Ratten, die schon lange im Tunnel hausten und mit dem hässlichen Geruch konfrontiert worden waren, rannten schnell. Als die beiden erst in der Mitte des Tunnels anangekommen waren, befanden sich die ersten, schnellsten Ratten schon in Guantanamo. Sie stürzten sich auf die amerikanischen Soldaten und zerfleischten sie. Darüber wurde sofort der Admiral, der Stützpunktchef, unterrichtet. Der Admiral wollte alle evakuieren und nur eine Wache zurücklassen, begriff aber sofort, das die Kräfte ungleich verteilt waren. Die Wachen würden in Kürze aufgefressen sein. Er befahl: ,Alle Mann an Bord und los!'. Die Amerikaner kämpfen sich mit Flammenwerfer den Weg frei, verloren trotzdem zehn Männer.
Mit hocherhobenen Händen und auswendig gelernten Sätzen in Englisch und mit dem Wunsch um politisches Asyl kamen Enrico und Angela aus dem Tunnel heraus. Zur ihrer Überraschung war der Stützpunkt leer. Keine Amerikaner, nur Rattenschwärme plünderten das amerikanische Proviantlager.
· Das ist aber komisch. Wo sind denn die Amerikaner? Warum sind sie nicht da? Nur Ratten, nichts mehr. Doch das kann nicht sein. Wahrscheinlich haben die Amerikaner Angst vor den Ratten und haben sich irgendwo versteckt? Ich berichte ihnen über das chinesischen Mittel und bitte um politisches Asyl. Aber die Amerikaner sind verschwunden. Was sollen wir jetzt tun? Nach Kuba zurück können wir nicht, und hier bleiben ist auch zwecklos. Wir sind verloren! Bye bye, unsere Träume von unserem schönen Leben! - sagte Enrico voller Panik.
Die beiden liefen ziellos auf dem Stützpunkt herum und befanden sich bald im Park. Sie waren sehr schlechter Laune, wussten nicht, wie sie weiter vorgehen sollten.
Plötzlich sah Enrico einen hohen Mast mit der amerikanischen Fahne.
· Mir scheint, ich weiß schon, was wir machen können, - sagte er.
· Ich habe zufällig die kubanische Fahne dabei, ich wollte sie den Amerikanern verkaufen, um Geld für die erste Zeit zu haben. Jetzt hisse ich die kubanische Fahne auf dem Mast und sage, dass wir Guantanamo von den Amerikanern befreiten haben. Wir werden kubanische Helden. Das ist bestimmt kein so guter Ausweg aus unserer schlechten Lage. Doch wir haben kaum keine andere Wahl. Es wäre ja besser in Amerika zu sein, aber...
Gesagt - getan. Auf dem hohen Mast des amerikanischen Stützpunktes wehte die kubanische Nationalfahne stolz im Wind.
· Es lebe das freie Kuba! - rief Enrico und salutierte ironisch der Fahne. - Die ganze Insel ist endlich frei, und wir haben das geschafft.
In diesem Moment sahen sie, dass die Ratten sie umringten und nur darauf warteten, bis der Geruch der Genitalien des Wildkaters verschwunden war. Sie leckten sich die Lippen mit roten Zungen. Speichel tropfte aus den Mündern, leckeres Essen im voraus genießend. Angela und Enrico wollten das Extrakt erneut nutzen, aber die Flasche war leer. Sie verstanden, dass sie verloren waren und sterben müßten.
· Jetzt sterben wir. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass unser Abenteuer so schlecht ausgehen würde. Verzeih mir, das wollte ich nicht. Ich sterbe für das freie und vereinigte Kuba, - sagte Enrico mit tragischer Ironie.
· Ich sterbe voller Liebe zu dir,' sagte Angela leise.
Die Ratten stürzten sich auf sie und in wenigen Minuten waren Enrico und Angela aufgefressen.
Der Staatspräsident saß auf dem Balkon seines Palastes und schaute sich die Hauptstadt durch ein Fernrohr an. Das hatte er sehr billig auf deinem "marché aux puces" in Paris während seiner offiziellen Visite, einer Einladung des Präsidenten der Französischen Republik gekauft. Seit dieser Zeit verbrachte er seine ganze Freizeit mit diesem spannenden Gerät. Er verlor das Interesse an seiner Familie, die Ehefrau beklagte sich über seine Gleichgültigkeit, die Kinder stellten das Haus auf dem Kopf. Aber der Staatspräsident machte sich darüber keine Sorgen. Nach den Sitzungen des Kabinetts eilte er zum geliebten Fernrohr, richtete es auf Guantanamo. Der amerikanische Stützpunkt war immer wie eine Wunde in seinem großen, liebevollen Herzen gewesen. Er wollte vermeiden, dorthin zu schauen, machte es jedoch wieder und wieder. Es bereitete ihm masochistischen Spaß. Er sah zu seiner Überraschung, dass da auf einmal am Mast die kubanische Nationalfahne wehte. Er traute seinen Augen nicht, die er schloss. Dann machte er sie wieder auf. Auf dem amerikanischen Stützpunkt Guantanamo hing tatsächlich die kubanische Nationalfahne! Sofort rief er die Regierung zusammen. Der Staatspräsident selbst wollte die kubanische Armee mit Orchideenschmuck nach Guantanamo schicken. Aber einige vorsichtige Minister befürchteten eine Provokation. Von den Amerikaner kann man alles erwarten. Man einigte sich, eine kleine Vorhut vorauszuschicken.
Nachdem die Kubaner Guantanamo erreicht hatten, fanden sie dort keinen einzigen Amerikaner. Auch die Ratten waren verschwunden, sie hatten alles aufgefressen, was man auffressen kann, und waren in den Tunnel zurückgekehrt. Die Kubaner salutierten vor der kubanischen Fahne und meldeten nach Havanna die Befreiung Guantanamas. Sie liefen glücklich auf dem Stützpunkt umher. Zufällig fanden sie ein Häufchen von menschlichen Knochen sauber abgenagt und zwei kubanische Pässe. Durch die Pässe erfuhren sie die Namen der Helden, die die Amerikaner aus Guantanamo vertrieben hatten und dabei ums Leben gekommen waren.
Man entschied, Elitetruppen nach Guantanamo zu schicken, um die Überreste der Helden für ein Begräbnis, das festlich sein sollte, nach Havanna zu bringen. Alle Interessierten konnten an der Trauerzeremonie teilnehmen. Einige sagten, dass die Helden in einem Mausoleum beigesetzt werden sollten, dass extra auf dem Zentralplatz errichtet werden würde. Aber der Staatspräsident war dagegen. Ein Mausoleum sollte ausschließlich für ihn selbst gebraucht werden, natürlich nach seinem Tode, und zwei Mausoleen auf einem Platz, das wäre zuviel. So wurde entschieden, dass die Helden auf den Nationalfriedhof zusammen in einem Grab begraben werden sollten, um sie nach dem Tod nicht zu trennen. Auf dem Grab sollte eine dreimeter hohe Kopie der berühmten Skulptur von Roden "Der Ewige Kuss" errichtet werden, mit der Aufschrift auf dem Sockel: Sie starben für die Heimat.
Das Begräbnis war pompös. Zwei Särge standen auf einer Artillerielafette. Der Hauptplatz war überfüllt mit Leuten, die sich von den Helden verabschieden wollten. Frauen zerrissen ihre Kleider, Männer ihre Hemden und Hosen. Der Staatspräsident ernannte Angela und Enrico zu den großen kubanischen Helden.
· Sie vollbrachten das, was meinem Freund Che Guevara nicht gelungen ist, - sagte er.
Nach dem Staatspräsident sprachen alle, die immer eine Gelegenheit zur Selbstdarstellung suchten, von Ministern bis zu einfachen Handwerkern. Zahlreiche Telegramme aus der ganzen Welt wurden vorgelesen. Auch der Papst sandte ein Telegramm, in dem er Angela und Enrico christliche Märtyrer für den Glauben nannte. Für den Glauben an die bessere Zukunft der Menschheit. Am Ende des Telegramms schrieb er, dass in Kuba Politgefangene einsässen, und es würde keine Sünde sein, sie freizulassen. Militärorchester spielten Trauermärsche, Kinderchöre sangen traurige Lieder und Choräle. Alle waren unglücklich.
Nur ein Mann in Kuba war glücklich. Das war Angelas Witwer. Endlich konnte er mit seinem Freund ganz offen leben. Die beiden wollen in Kürze nach Stockholm fliegen, um sich dort in der Riddarholmskirche trauen zu lassen.

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Idee, Planung & Umsetzung
Alexander F. Buescher
Communications

technische Betreuung
Brian Rosenberger
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